Donnerstag, 31. Dezember 2015


[1. Oktober - 5. Oktober 2014]
So. Alle lästigen Pflichten sind erfüllt und ich habe nun alle Zeit der Welt, um dieses vielfältige Land zu erkunden. Ich bin optimal vorbereitet, habe genug Geld in der Tasche sowie einen Haufen toller Ausrüstung und technischer Rafinessen. Jetzt kann's richtig losgehen!

Oder auch nicht. Wenn nämlich das alles plötzlich weg ist.

Mittwoch, 1. Oktober 2014 [Abend]
Noch ahne ich von alledem nichts. Ich bin nach dem Verteidigen der Bachelorarbeit zurück in Venedig, wo das Fahrrad anständig auf mich gewartet hat und bereite mich auf den nächsten Tag vor. Stadt und Lagune habe ich nun ausreichend begutachtet, morgen geht die Reise endlich weiter Richtung Süden! Ich freue mich schon.
Neu im Gepäck sind unter Anderem ein 8-Stunden-Reserveakku für den Laptop sowie ein Surfstick für Italien, damit bin ich gleich mal ein gutes Stück unabhängiger von Hotspots und Steckdosen. Auf einer Bank probiere ich die Internetverbindung aus, funktioniert soweit wunderbar.



Auf dem Weg zum Schlafplatz treffe ich Rino wieder, den schrägen Gitarrenvagabund aus Bukarest mit seinen 100 Elvis-Songs. Hätte gar nicht gedacht, dass er nach drei Wochen immer noch hier ist.
Scheint sich aber für ihn gelohnt zu haben: Als es neulich ein Unwetter gab, war er drüben auf dem Lido und hat im weißen Graupel-"Schnee" einfach Weihnachtslieder gespielt. Das brachte wohl einige Lacher und sehr gut Geld.
Wir unterhalten uns noch den ganzen Abend und tauschen Proviant: Er ist begeistert von meiner Wurst aus Deutschland und bietet mir dafür Wein an. Den gab es heut im Sonderangebot und er hat noch genug...

Donnerstag, 2. Oktober 2014
Augen auf, klarer Himmel... Heute scheint ein schöner Tag zu werden. Der Schlafsack ist etwas feucht, ich lasse ihn in der Morgensonne trocknen. Ein Angler steht daneben und passt auf. Ich gehe derweil Rino wecken, der es sich auch in der Nähe bequem gemacht hatte. Jetzt hat er mächtig Kopfweh, denn er verträgt den Alkohol wohl nicht mehr so gut... dabei hat er gar nicht viel getrunken gestern.


Nach einem Plausch mache ich mich schließlich wieder auf den Weg: Zurück über die Freiheits-brücke aufs Festland, um dann schnurstracks nach Süden zu fahren.


Fledermaus auf der Mauer. Keine Ahnung.
Am Ende der Brücke bleibe ich stehen und schaue noch einmal zurück nach Venedig. Es ist schon ein seltsames Gefühl. Als müsste ich nochmal zurück, als gäbe es da noch was... Na klar, auch die vielen Tage, die ich nun dort war reichen nicht aus, um alles zu sehen. Und wenn man sich einmal so schön eingelebt hat, fällt der Abschied schwer...
Tja, so ist das halt. Hab ich alles mit? Nichts vergessen? Jo. Weiter geht's.

Der Abschnitt in Mestre, wo sich die ganzen Hauptstraßen sortieren, ist für Fahrräder ein Bisschen unschön und teilweise ziemlich eng. Zwischen manchen Pfosten kommt man mit zwei Hecktaschen nur ganz knapp durch (oder halt nicht, wenn man wie ich dagegenrauscht). Außerorts wird's dann aber besser: Schnurgerade, breite Straßen im Flachland. Zwar dementsprechend langweilig, aber man kommt vorwärts. Ich stopfe mir Musik ins Ohr und rase drauflos...


Nach ca. 4 Stunden mache ich dann mal Rast, ich bin gut vorwärtsgekommen und habe die langgestreckte Lagune hinter mir. Zeit für einen Imbiss.
Irgendwas ist seltsam, als ich so das Fahrrad anschaue. Auf dem Gepäckträger sind Schlafsack und Zelt, links neben dem Hinterrad ist die eine Ortliebtasche und und rechts ist keine, weil die andere ja... Moment mal, das darf nicht sein. Ich bin den Anblick ja gewohnt, da ich die rechte Tasche in Venedig immer als Rucksack umfunktioniert mitgeschleppt habe. Aber auf meinem Rücken ist jetzt... nichts.

Die Tasche ist weg.

Nein, sie liegt nicht neben dem Fahrrad oder in der Bushaltestelle, wo ich gerade Rast gemacht habe. Sie ist nirgendwo zu sehen. Das kann doch nicht sein! Da drin waren mein Laptop und das ganze Geld und... Scheißescheißescheiße-
Nein, ruhig bleiben. Oder es zumindest versuchen. Wo kann sie sein? Kann ich sie sonst irgendwo vergessen haben? Wann hab ich sie das letzte Mal gesehen?

Seit Venedig habe ich bis eben kein einziges Mal wirklich Rast gemacht, nur mal kurz das Rad an die Leitplanke gelehnt. War die Tasche dort noch da? Ich weiß es nicht. Wie gesagt: Ich bin den Anblick des Rades mit fehlender Tasche seit Venedig irgendwie gewohnt, vielleicht ist mir's einfach nicht aufgefallen, wenn sie schon weg war. Vielleicht liegt sie irgendwo im Straßengraben. Aber müsste man das nicht merken, wenn das Ding einfach so abfliegt? Gut, wenn man laut Musik hört, möglicherweise nicht...
Halt! Ich bin in Mestre doch an dem einen Pfosten da hängen geblieben. Hab ich mir die Tasche etwa dort runtergerissen? Oder lockergemacht? Aber nach dem Rumms hab ich mich doch umgeschaut, mit dem Ergebnis, dass alles Okay ist... Oder hab ich bloß was übersehen? Bin ich am Ende nur mit dem Schlafsack hängen geblieben und die Tasche war dort schon weg? Am Ende der Freiheitsbrücke hatte ich doch dieses komische Gefühl beim Zurückschauen, hatte ich da schon unbewusst gemerkt, dass was nicht stimmt?
...
Je mehr Gedanken ich mir mache, desto unsicherer werde ich. Die ganzen Details verschwimmen zu einer wirren braunen Suppe und ich weiß überhaupt nicht mehr, was nun wie genau war und auf welche Erinnerung jetzt wirklich Verlass ist. Ich weiß nur: Die Tasche ist weg und ich muss mein Möglichstes tun, um sie vielleicht doch wiederzufinden. Sprich: Die ganze Strecke zurückfahren und gucken. Es wird schon alles wieder gut. War doch bisher immer so. Das Ding wird schon wieder auftauchen.

Kurz nach dem Umkehren bemerke ich einen anderen Radreisenden hinter mir: Ein gemütlicher Süditaliener, der fortan einfach auf der linken Straßenseite fährt, um mit nach meiner Tasche Ausschau zu halten... Nach einer Weile hat er aber 'nen Platten und ich muss alleine weiter.

Unterwegs realisiere ich erstmal so richtig, was jetzt alles weg ist:
- Laptop + Reserveakku + Surfstick
- mehrere hundert Euro, praktisch zwei Drittel meines Budgets
- Sämtliche Ladekabel
- Powerstation für Strom unterwegs
- Stativ für die Kamera
- Rasierapparat (Okay, was soll's.)
- ...
Es war eben die eine Tasche, die nie verloren gehen durfte.
Und aller Hoffnung zum Trotz komme ich abends wieder in Venedig an, ohne sie gefunden zu haben.


Es gibt zu jeder Lebenslage ein passendes Lied.

Ich treffe mich am Campo Margherita kurz mit Günter, der empfiehlt, in der Polizeistation eine Verlustanzeige aufzugeben.
Später finde ich Rino wieder, der sich schon wundert, warum ich nochmal zurück bin. Nach meiner Story beschenkt er mich erstmal mit Wein und Snacks und schimpft mit mir, dass ich so unvorsichtig bin. Man müsse regelmäßig nachschauen, ob noch alle Taschen da sind und das wichtigste besonders gut festmachen. Na ja, zu spät...

Freitag, 3. Oktober 2014
Wie empfohlen gehe ich morgens wegen der Verlustanzeige zur Polizeistation. Im örtlichen Fundbüro hatte ich schon angerufen, kein Erfolg. Den Beamten zeige ich ein Foto von der zweiten Hecktasche auf meiner Kamera, damit sie wissen, worum sich's handelt. Dann tragen sie eine Beschreibung mit den verlorenen Gegenständen in ihre Datenbank ein, mehr können sie auch nicht machen. Wenn ich Glück habe, meldet sich irgendwann ein Finder. Mit dem Geld, das drin war, brauche ich aber nicht mehr zu rechnen...
Ansonsten soll ich noch bei den Carabinieri fragen, ob die was gefunden haben. Das ist in Italien eine Art separate Militärpolizei, die immer auf den Straßen patroulliert.  
(Und über die sich die Italiener ständig lustig machen, sind dort sowas wie die Ostfriesen vom Dienst.) 

Mehr kann ich hier nicht machen, also geht's wieder raus aus der Stadt und Richtung Süden... Die Hoffnung stirbt zuletzt und ich passe die ganze Zeit auf, ob die Tasche nicht doch noch im Straßengraben liegt.
Schließlich komme ich wieder an meinem Rastplatz von gestern an, gefunden hab ich natürlich nix...

Proviant und Jacke wüst auf den Gepäckträger geschnallt. Es fehlt ja jetzt auch einiges an Stauraum.

Und jetzt? Soll ich lieber zurück nach Hause? Die ganze akribisch vorbereitete technische Ausrüstung hat sich in Wohlgefallen aufgelöst und vom Geld ist auch nicht mehr viel übrig. Soll ich das ganze Abenteuer, von dem ich schon vor Jahren geträumt habe, einfach abblasen? Vielleicht wäre das ja klüger so. Vielleicht ist jetzt einfach nicht die richtige Zeit.
Aber das ist doch scheiße. Jetzt bin ich einmal hier, jetzt geht's auch weiter! Wenigstens noch bis San Marino, dort habe ich nämlich wieder einen Gastgeber und kann in Ruhe weiterplanen. Und wenn ich ganz sparsam weiterreise, reicht's vielleicht noch bis Sizilien. Bisher hatte ich 5€ pro Tag veranschlagt, wenn man das halbiert, haut's gerade so hin...
Ich weiß auch nicht, wo die Grenze zwischen Mut und Dummheit ist. Aber man kann ja mal gucken.

Immer. Gerade. Aus.

Der Geist zweifelt, die Beine strampeln unbeirrt weiter. So langsam überlege ich mir nach und nach die wichtigsten Schritte, um mit der Situation umzugehen. Erstmal ein Handyladekabel auftreiben. Falls die Tasche doch noch irgendwie gefunden wird, will ich erreichbar sein. Ebenso für den Couchsurfing-Host in San Marino...

Im Urlaubsort Chioggia melde ich meinen Taschenverlust noch bei den Carabinieri, wie mir empfohlen wurde. Dann sehe ich mich etwas verloren an der Strandpromenade um. Ein Hotel steht hier neben dem anderen, nur Urlauber gibt es kaum noch. Die Saison ist vorbei hier im Norden. Ich erinnere mich an einen alten Tip: In Hotels werden ja immer wieder irgendwelche Kleinigkeiten von den Besuchern vergessen - und am häufigsten bleiben wohl Handyladekabel liegen. Wenn man da an den Rezeptionen fragt, soll man durchaus Erfolg haben können. Zur Hauptsaison würde das sicher am besten laufen, aber ich probier's trotzdem mal aus.
Ergebnis: Einige haben tatsächlich noch Ladekabel da, aber leider keins, das in mein Handy passt. Einer der Rezeptionisten bietet mir fröhlich an, das Handy mit seinem Kabel aufzuladen. Na immerhin, das hilft auch schon mal. Ansonsten erfahre ich noch, dass es in einem China-Shop in der Nähe zumindest billige Kabel zu kaufen gibt. Später hole ich mir dort eins. Tagesbudget überzogen.

Sonst keine besonderen Vorkommnisse, bis ich mich abends versteckt unter einer Brücke schlafen lege.

Samstag, 4. Oktober 2014
Aufwachen! Zeit für mein ultimatives, multinationales Frühstück.

Yeah.

So langsam finde ich mich mit meiner neuen Situation ab und habe sogar wieder Lust aufs Fotografieren. Nur übertreiben sollte ich's nicht, da die Akkus nun mal irgendwann alle sind. Ein Ladegerät zu finden (vielleicht in San Marino?) wäre dann der nächste Schritt. Diese Fotos, um all die Erinnerungen festzuhalten, gehören für mich zum Wichtigsten auf der Reise. Zum Glück hatte ich die Kamera nicht in der Tasche.
Aber dementsprechend bin ich auch die ganze Zeit schon besorgt, ob die ganzen bisherigen Fotos noch da sind. Die auf dem Laptop sind ja nun weg. Hoffentlich, HOFFENTLICH habe ich eine Sicherungskopie auf die andere Karte geschoben... ich kann es ja jetzt nicht nachprüfen.

Da war ein verfallenes, überwuchertes Haus am Straßenrand. Sowas muss ich halt knipsen.

Ständig passiere ich Ortschaften mit der Bezeichnung Città d'Arte (Stadt der Kunst) und am Straßenrand liegt sehr seltsames Obst rum. Grüne, kräuselige Dinger sind da vom Baum gefallen. Sie sind so groß wie eine kleine Melone und sondern eine milchige Flüssigkeit ab, wenn man ein Loch reinpikst. Ach, seht selbst:




Inzwischen habe ich mal Meister Google gefragt. Respekt vor der Technik: Die Anfrage "große grüne komische frucht italien" führt in der Bildersuche tatsächlich zum gewünschten Ergebnis. Um eine Milchorange handelt es sich. Der Baum kommt eigentlich nur in einem realtiv kleinen Gebiet in und nahe Texas vor, wurde aber stellenweise in Italien eingebürgert.

Am Nachmittag biege ich nach einer Stippvisite am Strand kurz ins Landesinnere ab, um Comacchio einen Besuch abzustatten. Ich hab nur mal ein hübsches Bild von dort gesehen und weiß sonst nicht viel über die Kleinstadt, aber sie ist mit knapp 5 Kilometern nicht weit weg und ich habe noch genug Zeit. Einfach mal wieder überraschen lassen.
Gute Entscheidung! Comacchio wirkt mit seinen Kanälen wie ein kleines Stück Venedig oder Murano und gerade heute haben sie ein Stadtfest. Das geschäftige Gewusel in der Altstadt ist eine willkommene Abwechslung, ich bleibe für ein Weilchen und genieße die Atmosphäre.






Wahrzeichen von Comacchio ist eine Brücke, die nicht zwei, sondern gleich fünf Ufer miteinander verbindet. Unter ihr laufen sternförmig fünf Kanäle zusammen. So schaut sie aus:



In der Nähe höre ich laute Musik, irgendwo muss gerade eine Veranstaltung laufen. Mal gucken wo das ist. Immer den Schallwellen entgegen.
Auf einer Bühne führen Tanzgruppen aus dem Umland kleine Musicalstücke auf. Ein bunter Mix vom Glöckner von Notre Dame bis Mary Poppins. Ich schaue für ein Weilchen zu, vergesse allen Ärger und freue mich einfach, hier zu sein...



"Ein Löffelchen voll Zucker" auf italienisch:*Klick*

In der Nähe werden gerade Meeresfrüchte zubereitet.




Hey, die haben Infoblätter zu lokalen Radrouten daliegen. Sehr gut! Eine der Karten kann man sogar am Lenker festmachen. Ich folge ihr und fahre nicht den selben Weg zurück zur Küstenstraße, sondern mache noch einen Schwenk um den inneren Salzsee der Valli di Comacchio. Viele Tiere sollen in diesem Gebiet leben, unter Anderem Stachelschweine und das kleinste Säugetier der Welt. In der Ferne kann ich ein paar Flamingos ausmachen... Für ein Foto hat's aber leider nicht gereicht. Kein Zoom.




Im Dunkeln fahre ich noch ein kleines Stück weiter nach Süden und lege mich dann schließlich ungestört und ungesehen in der Mitte eines riesigen Kreisverkehres schlafen.

Sonntag, 5. Oktober 2014
Es geht weiter Richtung Rimini. Ihr wisst schon: Flach und geradeaus durch unspektakuläre Landschaft. Aber ich bin froh, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein:

Elegant am Stau vorbeizurauschen zaubert einem doch immer wieder ein Grinsen aufs Gesicht.

Später passiere ich wieder leergefegte Strandpromenaden, irgendwie ein trauriger Anblick. Überhaupt wirkt mir hier alles viel zu herbstlich. Vorbeiziehende Zugvögel, kahle Platanen...

Neiiin, weg hier! Ab in den Süden!

Bei Rimini biege ich schließlich ab nach San Marino, sage meinem Gastgeber per Handy Bescheid und fahre nach all dem Flachland mal wieder bergauf. Die Straße ist gut ausgebaut, da die meisten Leute über diese Route den kuriosen Zwergstaat besuchen.
Abends im Dunkeln passiere ich schließlich die Grenze und bin da... mal wieder in einem neuen Land.

-----> Fortsetzung folgt.
Und ich werde es definitiv nicht bereuen, weitergefahren zu sein.

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